VIRGINIA WOOLF: ORLANDO

aus dem Englischen von Gaby Hartel
Hörspiel in 6 Teilen
Bayerischer Rundfunk 2013

Bearbeitung: Gaby Hartel
Komposition: Ulrike Haage
Regie: Katja Langenbach

Mit : Fabian Gröver, Paul Herwig, Brigitte Hobmeier, Hans Kremer,
Wiebke Puls, Gabriel Raab, Georgia Stahl, Michaela Steiger

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Alle Folgen dieser Produktion sind im Hörspielpool des Bayerischen Rundfunks verfügbar.

Diese Produktion kann im Hörspiel Pool des Bayerischen Rundfunks / Hörspiel und Medienkunst heruntergeladen werden. Auf CD erhältlich.

„Ich will die Biographie über Nacht revolutionieren!“ notierte sich Virginia Woolf spät im Jahr 1927 euphorisch ins Tagebuch und der Funke war gezündet. Begeistert stürzte sie sich in das „Projekt Orlando“, das zum „Rückgrad ihres Herbstes“ wurde, ein Buch, das sie leichthändig „vor dem Abendessen schreiben“ konnte. Es machte ihr unendlich viel Spaß! Den Lesern übrigens auch, wie die Verkaufszahlen der ersten drei Wochen zeigten, die selbst die kühnsten Erwartungen übertrafen. Orlando war von Anfang an Legende. Was die energetische Dynamik anging, war dieses Buch ein Glücksfall für Woolf. Zwar floss bei dieser Autorin immer Privates mit Beruflichem zusammen, doch jetzt war sie angefeuert von der engen Beziehung, Begeisterung und Liebe zu einer schillernden Abenteurerin, der adeligen Vita Sackville-West. Als schönsten Liebesbrief der Literaturgeschichte hat man Orlando bezeichnet. Und sicher: Sackville-West stand ihrer Freundin in vielem Modell für diese Fantasie. Fakten wurden mit Fiktivem vermischt, zu symbolischen Szenen verdichtet, mit Goldstaub überzogen.

Trotzdem greift die Beschreibung vom Liebesbrief zu kurz. Denn vor allem gelang es Woolf hier unaufgeregt und verspielt, gesellschaftspolitisch und kulturhistorisch relevante Themen aufzugreifen. Die Stellung der Frau, die Aggression des Empire, die rückwirkende Deutung von Geschichte aus machtpolitischen Gründen. Alles, was Virginia Woolf als Denkerin ausmacht, finden wir hier. Scheinbar Unverrückbares wird funkelnd und satirisch zugleich demontiert: Stand, Status, Geschlecht und Geschichtsschreibung, Macht, Posen und Konventionen. Besonders viel Sorgfalt verwendet Woolf auf die Darstellung der Relativität von Zeit und Begebenheit.

Neben ihrer Begeisterung für Sackville-Wests Person, behandelt Orlando eine weitere Leidenschaft Woolfs: ihre Liebe zur Biographie als Genre. Als Leserin verschlang sie diese Bücher und reflektierte in ihren Notizen über die Form. Woher kam der oft anmaßende, allwissende Ton der Autoren? Woher der Glaube, die Figur so gut fassen zu können? Wieso erfahren wir oft mehr über Zeit und Moral des Biographen, als über die Person, die zur Debatte steht? Wieso erstickte oft eine buchhalterische Sprache jedes Gefühl für einen Menschen, der vor langer Zeit sehr lebendig war. Und, ganz zentral: wer legt eigentlich fest, dass Phantasie und Dichtung in einer Biographie nichts zu suchen haben. Woolf selbst gibt in Orlando vielen Positionen eine Stimme.

PRESSE

Funkkorrespondenz, 6.9.2013

Androgyn auf Zeitreise

Virginia Woolf: Orlando. 6-teilige Hörspielversion (Bayern 2)
Bayern 2 (BR) sonntags 14.7. bis 18.8. jeweils 15.00 bis 15.50 Uhr

Virginia Woolf hat ihren 1928 erschienenen phantastischen Roman „Orlando“ im Untertitel als „eine Biographie“ bezeichnet. Der Titelheld Orlando, als dessen Vorbild die Zeitgenossen Woolfs beste Freundin und Schriftstellerkollegin Victoria Sackville-West erkannten, ist eine Kunstfigur. Die Darstellung der vom elisabethanischen Zeitalter bis zur Entstehung des Romans reichenden Lebensgeschichte Orlandos ist ein literarisches Mixtum compositum aus Geschichtsschreibung, Kulturhistorie und Gesellschaftskritik und in der Beschreibung der Geschlechterrollen ein Plädoyer für die Emanzipation der Frau. Virginia Woolf wollte nach eigener Aussage das Genre Biographie „revolutionieren“ und räumte den Fiktionen und der subjektiven Einfühlung in den Charakter des Protagonisten den gleichen ästhetischen Stellenwert ein wie der historischen Authentizität. Am Hörspielbeginn – wir schreiben das Jahr 1586 – ist Orlando 16 Jahre alt und übt sich im Schreiben von Poesie; später wird der Schönling und Frauenliebling ein Günstling von Elisabeth I., die ihn zum Schatzmeister und Oberhofmeister ernennt. Orlandos Fortüne am Königshof findet zur Zeit der Regentschaft von James I. nach eine Affäre mit der russischen Prinzessin Sascha ein Ende, er wird verstoßen, ist bald finanziell ruiniert und zieht aufs Land. In einer depressiven Phase wirft er sein literarisches Werk, darunter nicht weniger als 57 Schauspiele, in den Ofen – mit Ausnahme seines ersten Lyrikbandes „The Oak Tree“, der ihn durch die Jahrhunderte begleiten wird.

König Jacob II. holt ihn an den Hof zurück, verleiht ihm den Herzog-Titel und schickt ihn als Gesandten nach Konstantinopel (Istanbul). Nach einem siebentägigen Tiefschlaf erlebt Orlando mit 37 Jahren seine Verwandlung vom Mann in eine Frau, er findet seine Identität in der Bisexualität. Orlando verbringt einige Zeit „bei Zigeunern“ in Thessalonien, heiratet dort auch, ehe er/sie als Frau nach England zurückkehrt. Als Lady Orlando hat sie während der Schiffsreise viele Gelegenheiten, über die Geschlechterrollen zu reflektieren und den von Männern oktroyierten Rollenbildern ihre emanzipatorischen Interessen entgegenzusetzen.

Als sie Anfang des 19. Jahrhunderts in London eintrifft, erkennt sie das London, in dem der männliche Orlando in der Renaissance gelebt hat, kaum wieder. Sie bezieht ihr früheres Haus auf dem Land und führt dort einen Salon, wo ihr der Hochadel und die Geistesgrößen der Zeit wie Edison, Dryden, Swift und Pope die Aufwartung machen. Orlando beklagt sich über die geringe Wertschätzung der Frau auch in der ‘besseren’ Gesellschaft, im britischen Empire sieht sie die Geschlechter „sich voneinander wegbewegen“. Sie reagiert auf die männliche Dominanz, indem sie wieder „ihre alte Männerkleidung anzieht, denn im Kern weiß sie sich als Mann und als Frau als derselbe Mensch“.

Orlando „geht mit dem Zeitgeist durch die Jahrhunderte“, am Anfang des letzten heiratet sie den Abenteurer Shelmerdine, wird auch Mutter, ehe die in dreieinhalb Jahrhunderten nur zwanzig Jahre älter Gewordene am Hörspielschluss noch einmal einen „Bewusstseinsstrom durch die Zeiten“ erlebt.

Gaby Hartel als Übersetzerin und Bearbeiterin und die Regisseurin Katja Langenbach waren bereits bei der gelungenen Hörspielproduktion von Virginia Woolfs Roman „Jacobs Zimmer“ (BR 2012; vgl. FK 51-52/12) ein erfolgreiches Team. Mit ihrer sechsteiligen Produktion „Orlando“, die den sechs Großkapiteln des Romans entspricht und mit rund 300 Minuten Sendezeit sehr viel vom Inhalt des 320-Seiten-Buchs enthält, haben sie den Roman, der nicht zu den besten der Autorin zählt, sehr überzeugend ins akustische Medium transferiert. Der Roman wie auch das Hörspiel haben nur einen geringen Dialoganteil, den strukturell differenzierten Prosabericht hat die Bearbeiterin auf drei Erzähler verteilt: auf die Autorin (gesprochen von Vera Weisbrod) und auf zwei Biographen (Wiebke Puls und Paul Herwig). Den umfangreichen Part des männlichen und weiblichen Orlando teilen sich gleichermaßen mit jeweils souveränen Sprecherleistungen Gabriel Rab und Georgia Stahl.

Regisseurin Katja Langenbach hat die Stimmen sehr differenziert geführt und sparsame Geräuschkulissen gebaut, die sich nicht gegen den Primat des Textes behaupten müssen. Ulrike Haage hat etwa zur Hälfte des Textes eine dramaturgisch orientierte Musik komponiert und montiert, die von vorklassischer Cembalomusik bis zu elektronischen Beats reicht und für die Zeitreise Orlandos und für dessen inneres Erleben Wegmarken setzt. Dadurch werden für die jeweils dargestellte Zeit die passenden Atmosphären geschaffen.

6.9.13 – Norbert Schachtsiek-Freitag/FK